Mein Freund Harry

22.09.2015 21:54

Heute fand in Solla eine Heilige Messe für Harry statt. Ich wollte es so und hatte es auch gut erklärt: Wir feiern einen Gottesdienst für einen Unbekannten. Aber ihr kennt mich und ihr müsst wissen, dass was ich bin, das bin ich auch durch gute Freunde. Harry war einer dieser guten Freunde.
Zu Beginn der Messe versuchte ich eine kleine Biografie von Harry. Ich erzählte was er für eine gute, starke Mutter hatte, wie er und sicher auch sie für seine schulische Ausbildung ihres Behinderten Kindes gekämpft hatten und wie dieser zu Glauben gefunden hatte. Ich kanne in den 80iger Jahren eigentlich keinen, der aus eingenem Antrieb Christ geworden ist. Das zeigt mir bis heute, dass Harry dass etwas Besonderes war, genau wie seine einfache Disziplin, seine Fähigkeit ohne groß damit anzugeben, sich zu organisieren, mit dem einzigen Mittel zu arbeiten, was er dazu hatte, sein wunderbares Gedächtnis. Als wir später nach Frankreich, Kroatien oder bis nach Bosnien fuhren, war ich der Chauffeur, der den Lenker bediente, und er war das Gehirn, sagte ich pointiert. Alle in der Kirche fingen an zu lachen. Auch bei den Lagern der Aktion Sühnezeichen mit den Leuten aus verschiedenen Ländern, die wir in den 80iger Jahren in Deutschland und Ungarn gemeinsam leiteten war ich meistens der, der herumrannte und Harry der, welcher sich die Leute genau ansah und mir half, einiges zu verstehen.
Der Computer war für Harry kein Luxus, sondern eine Erlösung. Endlich konnte er selber schreiben. Ich erinnere mich an seine erste Maschine, ein westliches Model, dass er sich in DDR-Zeiten im An- und Verkauf für sein ganzes erspartes Geld geholt hatte. Es war ein Computer ohne Festplatte. Der Arbeitsspeicher musste jedesmal über Tonbandkassetten geladen werden. Aber es funktionierten. Wir staunten beide über diese Wunder der Technik. Keine Frage, als ich dann einige Jahre später in Köthen selber mit dem Computer anfangen wollte, holte ich mir Harry. Er erklärte mir alles und wir verbrachen einige schöne Tage gemeinsam.
Von den vielen Fahrten ist mir Lourdes am besten in Erinnerung. Harry wollte unbedingt mal den Ort sehen, wo die Gottesmutter so viele Kranke und auch Gelähmte heilt. Er selber sagte mir aber, dass er nicht geheilt werden wollte. "Da müsste ich ja dann arbeiten!" Wir lachten köstlich über diesen Gedanken. Wollte er wirklich nicht geheilt werden? Aber das stimmt auch: Harry war einer, der ein anders Leben kannte, dass nicht von Stress und Leistungsdenken geprägt war, wo man viel Zeit für andere hat. Und Harry war immer da.
Am Samstag in der Kirche war noch ein anderer Priester da, der das Glück hatte, Harry zu kennen, François Tiou, der zweimal mit mir in Deutschland war, Harry flüchtig gesehen hatte und für den es keine Frage war, heute mit mir und Vikar Bernard Yakpa am Altar zu stehen. Außer ihm waren noch etwa 150 Leute gekommen. Ein erstaunlicher Zulauf für einen Unbekannten. In Afrika ist es üblich, nicht nur zu kommen, wenn man den Verstorbenen kannte, sondern auch um den Trauernden beizustehen. Es ist auch nie eine reine Trauerfeier. Man möchte auch das Leben eines Menschen zu feiern. Deshalb gab es auch Musik, Blasmusik mit kräftigen Rhytmen und Tanz und natürlich ein ordentliches Festmahl. Etwa 50 Behinderte, Lahme, Blinde hatten sich eingefunden. Ich hatte sie speziell eingeladen. Dieu-Donné den Präsidenten des Behinderteverbandes im 35 km entfernten Ketao hatte ich nur einfach so angerufen und informiert. In zwei Tagen hatte er einen Kein-Bus mit 20 Leuten organisiert, von denen einige ihr dreirädriges afrikanisches Gefährt mitbrachten.
Das Festmahl hatte einen besonderen Charakter. Ich glaube, noch nie habe ich so viel einfache Freude erlebt in unserem Franziskussaal. Der blinde Michel ließ es sich nicht nehmen, zu Ehren Harrys seine Kalebassengitarre zu hervorzuholen und als anerkannter Griot sein improvisiertes übertriebenes Lob zu singen. Danach legte sich der Krüppel Assana ins Zeug. Er gibt religiöse Lieder aus Radio zum besten und tanzt dazu. Wenn er dann anfängt mit seinem Buckel und seinen verleierten Polio-Beinen herumzuspringen können sich die Leute vor Lachen kaum noch halten. Ein würdiges Fest zu Ehren Harrys.
Harry habe ich, glaube ich, nie weinen oder klagen sehen. So sollte wir auch bei seiner Beerdigung nicht damit anfangen. Dass was er uns lehrt ist Mut, der das Leben anpackt wie es ist und eine Offenheit und Freude dessen, dem man nichts nehmen kann. "Gold und Silber haben wir nicht," sagt Petrus, als er den Lahmen an der Tempelschwelle trifft. "Aber ich kann dir Kostbareres geben. Steh auf." Obwohl Harry arm war, konnte er viel geben. "Steh auf" heißt, "hab Mut". "Empfange die Kraft Gottes". Das ist es, was ich und andere von Harry emfangen haben. Kraft und Mut und eine außergewöhnliche Offenheit, die wohltuende Geborgenheit entstehen lässt. Auch hier in Togo. Alle kennen ihn jetzt, nicht nur weil sie eines der gedruckten Bilder mitgenommen haben, das sie in ihrem Zimmer irgendwo anbringen werden.
Hat sich Harry wirklich nie beklagt? Ich muss mich berichtigen. Er konnte auch wütend werden. Einmal als ich mit ihm im Zug nach Saalfeld saß, hatten wir uns gegenüber einige Jugendliche mit Bierflaschen. Das sie in bester Stimmung waren, teilte ein junges Mädchen unter ihnen auch mir etwas aus. Zu Harry sagte sie in einem Ton, wie man zu Kindern spricht: "Du darfst das nicht trinken und sei schön artig, nicht wahr?" Das waren die Momente, wo auch Harry seine Krise bekam. Etwas, was er allen lehren wollte war auch der Respekt vor der Person und das wir menschlich gesehen alle gleich sind, ob klein oder groß, arm oder reich, ob Deutscher oder Ausländer, Behinderter oder (angeblich) nicht behindert. Alle sind gleich und das sieht man am Verhalten ihnen gegenüber und wie man mit ihnen redet.
Mit Lourdes oder auch Petrus steht die Frage der Wunder im Raum. Passierten wirklich keine Wunder? Harrys Schwester hatte mir von einem seltsamen Spaziergang erzält, einem im Traum, am Meer, einen Spaziergang mit Harry, die Nacht als er starb. Ich erinnere mich: als wir auf unserer Frankreichreise in der Nähe von Bordeaux den Atlantik sehen wollten, ließ ich Harry auf der Düne zurück, es war unmöglich mit dem Rollstuhl durch den Sand zu fahren. Ich stürzte mich dann erst einmal in die Wellen. Solche Momente, wo ich meine Freude mit meinem Freund nicht teilen konnte und wo er mir einfach still meinen Spaß gewährte, stimmten mich dann immer etwas traurig. Deswegen war ich umso mehr erstaunt, als ich hörte, dass er mit seiner Schwester am Strand entlang wanderte. Harry konnte in dem Traum unmöglich im Rollstuhl gefahren sein. War ein Wunder passiert? Im Himmel gibts keine Rollstühle, das ist auch klar.
Ich selber sah im Traum, am Tag seiner Beerdigung die Tür unseres lieben Donatian, eines jungen Schneiders mit Kinderlähmung aus Solla. Er ähnelt in vielem Harry, in der Art sein Schicksal in die Hand zu nehmen, im Optimismus und auch in der Anzahl der Freunde, die er durch sein offenes Wesen hat. Als ich vor seiner Tür stand wusste ich, dass ich zum Essen eingeladen war. Ich verstand. Donnatian, hatte mich gerade letzte Woche daran erinnert, dass er seit 2009, seit 6 Jahren um seinen Lehrbrief kämpft. Er hatte noch nicht das Geld aufbringen können, um das aufwendige Mahl für die zahlreichen und strengen Schneidermeister in Solla zu veranstalten. Ich übersetzte den Traum dann in der Kirche so: Harry hat mir gesagt: Sorge dafür, dass Donatian endlich Patron wird.
Ja, wenn jemand gestorben ist, bin ich sehr aufmerksam auf Zeichen. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Harry im Jenseits untätig ist und nicht irgendwelche Hinweise senden würde. Am Tag, als ich das große Essen zu seinen Ehren für alle Behinderten und sonstigen Gäste geben wollte, tauchte morgens plötzlich eine seltsame Delegation auf, eine moslemische Frau und ein Junge mit einem großen Topf Kafa-Brei. Sie seien vom alten Jusuf geschicht worden, dem Blinden, weil er gehört habe, dass mein Pflegevater gestorben ist und in Afrika ist es nun mal der Brauch, dass man zu solchem Anlass Zeichen setzt. Die togolesische Gedächtnisfeier von Hubert, dem Mann meiner Mutter hatte Ende Juni stattgefunden. Nun haben wir September. Warum schickt Jusuf gerade heute seine Gabe der Verbundenheit? Wir fragten seine beiden Gesandten aus. Nein, von Harry wissen sie nichts. In der Messe sagte ich dann, dass wir unserem Freund Yusuf Dank sagen, dass wir den Segen über den Topf Kafa sprechen werden. Und mal sehen, ob sich die Nahrung vermehrt. Tatsächlich bekamen heute alle zu Essen. Jeder wurde satt.
Ich könnte noch von anderen Wundern sprechen, aber ich höre lieber auf. Höchstens noch zwei Dinge, die mich in Erstaunen versetzten oder vielleicht sogar in so etwas wie heiligen Schauer einflösten. Als ich sein Todesdatum las, konnte ich es kaum glauben. Am 3. September 2004 brach ich nach Togo auf. Scherzhaft möchte ich sagen, wir beide hoben an einem 3. September gen Himmel ab - nur er eine Etage höher. Nein, ich dachte als erstes, wie schön es gewesen wäre, wenn Harry einmal nach Togo gekommen wäre. Irgendwie gab es immer Gründe, die dagegen sprachen. Und ich werfe mir jetzt richtig vor, wenn es am Geld gelegen hätte, warum ich nicht einfach mein Konto geplündert habe um ihm den Flug zu bezahlen. Ich glaube, dass ist immer so. Wenn einer geht, erinnert man sich an jeden kleinen Mangel an Liebe. Aber ich sage mir jetzt: Wenn Harry wirklich nun im Himmel ist, dann ist er auch in Togo und sieht alles hier, unser Leben unsere Freuden und Leiden, so wie er sich immer für alles interessiert hat. Und wir beide sind an einem 3. September aufgebrochen.
Noch was. Es ist ein wenig albern, aber ich will es trotzdem auch noch erwähnen. Ich schäme mich nicht dafür. Der Erzähler im Buch St-Exuperys "Der kleine Prinz" sieht nach dem Tod seines Freundes in die Sterne und weiß, dass der kleine Prinz ihm nahe ist. Harry war ein Computerfreak. Wieso habe ich gerade in der Woche nach seinem Tod im Radio gehört, dass das System Bluetooth eigentlich mit Harald I, König von Dänemark zu tun hat, der den Beinamen "Blauzahn" trug? Harry ist die Kurzform von Harald. Ich glaube jedesmal, wenn ich jetzt Bluetooth benutze, werde ich nun an Harry denken. Bluetooth ist ja die Erfindung, wo der Funke überspringt zwischen zwei Apparaten. Das Bild, das du auf dem einen Handy siehst, erscheint plötzlich auf dem anderen, genauso wie die Gedanken, die du auf einem Computer aufgeschrieben hast, nun auf deinem Handy zu lesen sind. Eigentlich ein wunderbares Gleichnis für echte Freundschaft. Bluetooth, der blaue Zahn, das blaue Meer, der blaue Himmel.